Die Ukraine als europäischer Spieler

24.04.2020 

Die Ukraine verteidigt die Grenzen und die Freiheit Europas. Geht Russland aus dem Konflikt als Sieger hervor, dann ist nicht nur die Ukraine der Verlierer, sondern ganz Europa. Ein Kommentar von Rainhard Kloucek, Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich.

 
Ein Kommentar von Rainhard Kloucek, Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich

Ein Kommentar von Rainhard Kloucek, Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich

 

Jene Ukrainer, die 2013/2014 auf dem Euromaidan für die europäische Ausrichtung ihres Heimatlandes demonstriert, gekämpft und gelitten haben (und zum Teil auch gestorben sind) haben mindestens drei Gegner. Der erste Gegner ist die Erwartungshaltung der Ukrainer (auch der jungen Generation) an die Politik. Der zweite Gegner ist die noch immer sehr beherrschende Oligarchie, wobei Gegner Nummer eins und Gegner Nummer zwei miteinander verbunden sind. Der dritte Gegner ist ein Europa, das selbst mit so vielen internen Problemen, Strömungen und Interessen zu kämpfen hat, dass kein Interesse daran besteht, sich mit einem Land näher zu beschäftigen, das zweifelsohne massive Probleme hat. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die ersten beiden Gegner zu nennen, sondern auch der von Russland geführte Krieg gegen die Ukraine.

Der erste Gegner ist eine Folge des alten Sowjetsystems. Es ist der Paternalismus, der den Menschen vorgemacht hat, der Staat werde alles für sie zum besten regeln. Ein Phänomen und Problem, das auch dem Wohlfahrtsstaat in Europa zunehmend zu schaffen macht. Man wählt einen Präsidenten, in der

Hoffnung, dass er es besser für die Menschen machen werde, als es sein Vorgänger tat. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass manche Verbesserungen gar nicht in der Hand des ukrainischen Präsidenten liegen. Den Krieg Russlands gegen das Land kann der ukrainische Präsident nicht wirklich beenden. Darüber entscheidet Moskau. Die einzige Variante, bei der die Ukraine eine Beendigung herbeiführen könnte, wäre ein militärischer Sieg gegen den aggressiven Nachbarn. Diese Option ist momentan nicht realistisch.

Verbessert der Präsident also nicht wie versprochen oder wie erwartet die Lage, dann wählt man fünf Jahre später einen anderen Kandidaten, auch wenn man nicht genau beurteilen kann, was denn wirklich sein Programm ist, seine politischen Grundprinzipien sind. Hauptsache die Versprechungen, er oder sie werde es besser machen, passen.

Auch der zweite Gegner ist eine direkte Folge des alten Sowjetsystems. Hier besteht aber – zum Wohle der Ukraine – ein wesentlicher Unterschied zu Russland. Dort haben die Oligarchen geglaubt das Land beherrschen zu können, bis sich Vladimir Putin als Präsident gleichzeitig als Oligarch der Oligarchen etabliert hat. Oligarchen dürfen reich sein und bleiben, aber sie dürfen die Politik des Präsidenten nicht kritisieren. Viktor Janukowitsch hat versucht, dieses System auf die Ukraine zu übertragen. Er ist an seiner Raff- und Machtgier gescheitert.

Die Motive des dritten Gegners wurden bereits kurz skizziert. Sie sind aber genauso kurzsichtig wie unerfüllbare Erwartungen an einen Präsidenten, weil die geopolitische Lage keine Rücksicht auf die eigenen Probleme nimmt. Die Freiheit der Ukraine ist nämlich entscheidend für die Freiheit Europas, auch wenn das viele in Europa nicht sehen wollen.

Das hängt damit zusammen, dass die Ukraine ein eindeutig europäisches Land ist. Es unterscheidet sich damit von seinem großen östlichen Nachbarn, der einen Teil seiner Landmasse zwar geographisch in Europa hat, dessen kulturelle Prägung aber anders ist. Das zeigt schon ein kurzer Blick in die Geschichte. Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass der westliche Teil der Ukraine bis vor etwas mehr als 100 Jahren Teil eines mitteleuropäischen Vielvölkerreiches war. Ein wahrscheinlich entscheidender Unterschied geht auf die Zeit der Goldenen Horde zurück. Deren Herrschaft über die Ukraine war vergleichsweise von kurzer Dauer. Kyiv hatte bereits ein europäisch geprägtes Herrschaftssystem entwickelt, war über den Handel mit vielen anderen Regionen Europas und der Welt verbunden, als Moskau noch immer ein Khanat war. Die Herrschaftsform des Khanats hat die Herrschaftsform Russlands geprägt. Der Zar, um es jetzt einmal salopp zu formulieren, agierte als Großkhan, genauso wie das der Generalsekretär der allmächtigen KPdSU in der Sowjetzeit tat und wie es jetzt der russische Präsident tut. Es ist eine Herrschaftsform die Unterwerfung fordert. Die Macht bestimmt und letztlich muss das Volk auch bereit sein, für die Macht Leiden in Kauf zu nehmen. (Ob das in Russland auf Dauer funktionieren wird, kann hier nicht behandelt werden.)

Diese Herrschaftsform unterscheidet Russland nicht nur von der Ukraine, sondern von ganz Europa. Europa hat seine Größe durch Rechtsstaatlichkeit erarbeitet. In Systemen mit Rechtsstaatlichkeit kann sich Privateigentum entwickeln, das wiederum eine Voraussetzung für privates Unternehmertum ist, aus dem wiederum ein attraktiver Wohlstand entstehen kann. Russlands Größe beruht auf reiner Machtpolitik.

Damit soll keinesfalls behauptet werden, dass die Ukraine allen Ansprüchen eines rechtsstaatlichen Systems entspricht. Die oben zitierten Gegner eins und zwei (sowie andere Gründe) stehen dem entgegen. Wobei Gegner Nummer eins auch in EU-Europa aktiv ist, und der Wohlfahrtsstaat eine Abhängigkeit der Bürger – noch dazu mit ihrem eigenen Geld – vom Staat schafft, was wiederum den Paternalismus begünstigt.

Machtpolitik nach dem Geschmack Moskaus beruht, wie schon erwähnt, auf Unterordnung. Im Bestreben als Weltmacht agieren zu können, hat Russland deshalb auch kein Interesse an einem geeinten Europa. Es wäre zu stark, es könnte als geopolitische Größe auftreten. Das können einzelne europäische Nationalstaaten nicht (mehr). Deshalb unterstützt Moskau auch Kräfte in den EU-Ländern, die die europäische Einigung auf eine rein intergouvernmentale Zusammenarbeit reduzieren wollen. Deshalb suchen diese Parteien in Europa auch nach einer Partnerschaft mit Moskau, die eine Reihe von Staaten Mitteleuropas in das alte Konzept eines Zwischeneuropa pressen würde. Solange europäische Nationalstaaten noch als weltweite Akteure galten, konnte man dieses Konzept eines Zwischeneuropa noch aus nationalistischer Sicht vertreten. Europäische Mächte und Russland hätten dann über das Schicksaal dieses Zwischeneuropa bestimmt. Ab dem Zeitpunkt, wo aber kein europäischer Staat mehr als geopolitischer Akteur auftritt, wäre nur mehr Moskau der Gewinner.

Der Ausspruch des russischen Präsidenten Vladimir Putin, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe war, darf durchaus als programmatisch genommen werden. Mit der EU-Mitgliedschaft und der Nato-Mitgliedschaft vieler Länder des ehemaligen Ostblocks ist die Macht Moskaus über diese Länder gebrochen. Eine europäische Orientierung der Ukraine (oder auch Georgiens und Weißrusslands) wäre aus Moskauer Sicht eine Niederlage, weil nicht mehr Macht ausgeübt werden kann.

Gelingt Moskau der Schritt, die Ukraine wieder in seinen kompletten Einflussbereich zu bekommen, wäre die Motivation, weitere Schritte Richtung Mitteleuropa zu wagen, groß. Und die oben genannten Interventionen über verschiedene Parteien sind da nur ein kleines Beispiel.

Das Schicksal der Ukraine ist aber noch aus einem zweiten Grund für Europa wichtig. Gelingt es Moskau in der EU eine Spaltung in der Frage der Maßnahmen (sogenannte Sanktionen), die gegen Teile des russischen Systems als Antwort auf die militärische Aggression gegen die Ukraine gesetzt wurden, herbeizuführen, wäre Europa außenpolitisch kastriert. Das wäre für die europäische Ukraine genauso schädlich wie für Europa als Gesamtes.